Knecht Ruprecht und „Vom Himmel hoch“
„Das ist mein altes Lesebuch!“ Gisela Tomforde ist begeistert. Bei ihrer Arbeit im Archiv des Museumsdorfes Hösseringen entdeckt sie immer wieder interessante Details und spannenden Geschichten, mitunter sogar aus ihrem eigenen Leben. So wie mit dem alten Lesebuch für Dritt- und Viertklässler des Westermann-Verlages, erschienen in den 1950er Jahren, welches sie beim Stöbern nach weihnachtlichen Archivalien gefunden hat.
Schlicht grau kommt es daher und bunte Bilder sucht man im Gegensatz zu heutigen Lesebüchern vergebens. Skizzen, zum schwarzen Text immerhin in roter Farbe abgesetzt, erläutern den Inhalt, der neben traditionellen Geschichten und Gedichten aus dem Volksgut auch Klassiker enthält. Wert wird zudem auf regionale Bezüge gelegt. „Die Geschichte der Region, aufbereitet in Lesegeschichten, etwa über Heinrich den Löwen oder die Lüneburger Salzsau, war damals deutlich präsenter“, so Tomforde.
Als Kind vom Lande hat Gisela Tomforde aber auch Kritikpunkte: „Das Lesebuch präsentiert in der Darstellung ländlichen Lebens und landwirtschaftlicher Produktion – was ja auch eines der Hauptthemen des Museumsdorfes ist – eine Idylle, die es damals längst nicht mehr gab“, erläutert sie. „Heute sind die Lesebücher realistischer.“
Selbstverständlich wird auch der Jahreslauf thematisiert. Gisela Tomforde lacht: „Knecht Ruprecht mussten damals alle Kinder auswendig lernen“, erinnert sie sich, Theodor Storm gehörte zur Allgemeinbildung schon der Kleinsten hinzu. Und natürlich Martin Luther, dessen Weihnachtsgedicht „Vom Himmel hoch“ das Standard-Aufsagegedicht gewesen sei. Überhaupt mussten die Kinder viel auswendig lernen und aufsagen. „Daher kommt der Begriff ‚leiern‘“, schmunzelt sie. “Für das Museumsdorf sind historische Lehrbücher wichtige Zeitzeugnisse, denn sie bieten gute Möglichkeiten, den Aspekt ‚Bildung im ländlichen Raum‘ museal aufzuarbeiten und ggf. auch darzustellen. Das zu vermittelnde kulturelle Wissen, welches die Kinder ja auf das Leben vorbereiten sollte, spiegelt immer auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Umstände wider. In einer Zeit ohne Internet und Globalisierung entstanden, ist natürlich auch der räumliche Fokus dieses Lehrbuches begrenzter. Die Welt scheint irgendwie kleiner gewesen zu sein.“
Auf dem Foto: Fachsimpeln über Archivangelegenheiten: Kreisarchivarin Dr. Christine Böttcher (links) und Gisela Tomforde, die das Museumsarchiv betreut.
Christine Kohnke-Löbert