Es war einmal…
Wie sollte auch sonst eine Reise durch die Märchen der Gebrüder Grimm beginnen? Märchenerzählerin Petra Kallen aus Molden im Wendland hatte am Sonntag zu einem bezaubernden Spaziergang eingeladen, der nicht nur in die Welt der Märchen, sondern auch durch die Häuser und Gärten des Museumsdorfes Hösseringen führte. An fünf Stationen erzählte sie ihren zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern je ein Märchen aus dem großen Fundus der Gebrüder Grimm. Los ging es am Göpelschuppen mit den „Drei Federn“, dem Märchen vom Dummling, der am Ende das Königreich und die schönste Frau des ganzen Reiches gewinnt. Denn dumm ist er nicht, sondern einfach nur gütig und bescheiden – eine Lehre, die viele Märchen ihren Lesern mitgeben: Ein gutes Herz macht reicher als Stolz und Wohlstand. „Das Motiv der drei Söhne, von denen einer scheinbar recht unklug, aber dafür gütig ist, wird in den Erzählungen immer wieder aufgegriffen“, so Petra Kallen, die sich schon seit 20 Jahren dem Märchenerzählen verschrieben hat. Sie rezitiert ohne Manuskript, dafür aber mit viel Gefühl, Sicherheit und einer schönen Erzählstimme. Dies, gepaart mit dem unverwechselbaren Erzählstil der Gebrüder Grimm, ließ bei den älteren Zuhörerinnen und Zuhörern Kindheitserinnerungen wach werden, während sich die jüngeren von den Geschichten verzaubern ließen. Wann hört man dieser Tage schon Reime wie „Jungfer grün und klein, Hutzelbein“ oder „Spindel, Spindel, geh du aus, bring den Freier in mein Haus.“
Es waren eher unbekannte Märchen, die an diesem Sonntag vorgestellt wurden. Am Bienenzaun war „Die Bienenkönigin“ zu hören und im Brümmerhof die Geschichte vom armen Waisenmädchen, das am Ende sein Glück findet. „Märchen enthalten so viele Weisheiten, die auch für Erwachsene stimmig sind. Sie zeigen, wie man Schwierigkeiten überwinden kann – und am Ende geht es immer gut aus“, so Kallen. Gut ging es auch für die „Gänsehirtin am Brunnen“ aus, ebenso wie für die „Königstochter in der Flammenburg“. Dieses Märchen hatte Petra Kallen aus Siebenbürgen mitgebracht – und hier kam ausnahmsweise auch ein Drache vor. Der natürlich besiegt wurde.
„Ich bin ganz berührt“, fasst Dörte Kropp aus Burgwedel ihre Gedanken zusammen. Sie ist extra für den Märchenspaziergang nach Hösseringen gekommen. „Ich bin mit Märchen aufgewachsen. Viele junge Familien lesen die alten Märchen nicht mehr, weil sie grausem erscheinen. Aber heute ist deren tiefe Weisheit sichtbar geworden“. Das findet auch Monika Wetzel aus Seevetal, die mit ihrem Sohn Linus gekommen ist. Der Fünfjährige kennt sich mit Märchen schon ein wenig aus, aber diese kannte er noch nicht und fand sie „richtig spannend“.
Petra Kallen kam über den Wendländischen Märchenkreis zum Geschichtenerzählen. „Hier im Museumsdorf gibt es viele Anknüpfungspunkte, denn die Märchen spiegeln ja auch immer die Lebensumstände der Menschen früherer Zeiten wider“, sagt sie. Mit dem sonntäglichen Spaziergang ging für das Museumsdorf eine erfolgreiche Woche rund um die Welt der Märchen zu Ende. Einige alte Hand- und Hauswerke, die in den Märchen immer wieder vorkommen, können aber auch in dieser Saison noch erlernt werden. So etwa das Spinnen und Weben. Und bald ist wieder der Köhler vor Ort. Vielleicht kennt der geheimnisvolle schwarze Mann ja das Märchen von „Ranzen, Hütlein und Hörnlein“.
Christine Kohnke-Löbert